Boie, Prinz und Bottelknabe
Inhalt
Einer trägt den Namen Calvin Prinz und gehört zu den oberen Zehntausend. Der andere heißt Kevin Bottel und lebt so, wie sein Name klingt: im öden Häuserblock, ohne Illusionen und chronisch knapp bei Kasse. Das kann sich freilich ändern. Zum Beispiel dann, wenn er seiner leibhaftigen Kopie aus besseren Kreisen begegnet. Nach dem ersten Schreck kommt dem Zufalls-Zwillingspaar eine Idee: Wie wäre es, wenn sie, Calvin Prinz und Kevin Bottel, probehalber die Familien tauschten? Natürlich nur vorübergehend; eine kleine Erholung vom jeweiligen häuslichen Streß würde beiden gerade ganz gut passen. Gedacht - getauscht: Calvin wird wenig später in Aldi-Schuhen den Weg durch ein "Kotz-und-Würg-Treppenhaus" zu einer alleinerziehenden Mutter samt drei Geschwistern finden. Kevin darf sich in edle Unterwäsche und Lederjacke kleiden und durch die Tür eines Märchenpalastes schreiten.
In ihrer Verwechslungskomödie verschont Kirsten Boie weder Reiche noch Arme und Pädagogen schon gar nicht. Ob Kevin sich unter den Argusaugen seiner falschen Mutter auf dem Hockeyplatz bewähren muß oder Calvin vorsichtig durch zwielichtige Schmuddelviertel tappt - die unterschiedlichen Milieus sind mit festem Strich gezeichnet. Zum Teil wird dabei kräftig übertrieben, aber das steht dem jugendlichen Schwung der beiden Helden gut an.
Mark Twain hat schon einmal eine ähnliche Geschichte erzählt. Bevor dort der Betteljunge auf den Prinzen trifft, hat er freiwillig die Grundregeln höfischer Umgangsformen einstudiert. Zeitgenosse Kevin Bottel plaudert weitaus müheloser im unvertrauten Höflichkeitsjargon, den er sich vom Fernseher abgelauscht haben mag. Was die Unterhaltungen mit seinem Ebenbild und dessen Klassenkameraden betrifft, so sind sie in MTV-Zeiten beinahe no problem. Und doch gibt es feine Unterschiede, Kevin staunt und versteht: Sprache kann so mächtig sein wie eine Hand, die zum Schlag ausholt. Da gibt es einen Mathematiklehrer, den sein Sozialneid zu zynischen Worthieben treibt. Und die Stimme der eingetauschten Mutter vergleicht Kevin mit einem Scherzbonbon: außen süß, innen Senf. Den gewitzten Unterschichtensproß kann der Konversationston hinterhältiger Nettigkeit kaum irritieren - bis er auf das suggestive Gesprächsgeschick eines Psychologen hereinfällt. In Panik macht er sich auf die Suche nach seinem Double. Auch Calvin liegt mittlerweile viel an einer Aufklärung der verworrenen Zustände. Ausgerechnet in Lebensverhältnissen, die kaum Zeit für intensive Seelenschau lassen, hat er sein Herz entdeckt. Es gehört einer kleinen Schwester und vor allem der resoluten Mitschülerin Tatjana. Die aber zeigt ihm die kalte Schulter. Den Grund dafür vermutet Calvin ganz zu Recht im Vorleben seines Doppelgängers. Zum ersten Mal werden von dem sonst so behüteten Jungen Verantwortung und persönlicher Einsatz gefordert.
Kevin hat sich derweil einem Börsencrashkurs bei Calvins Vater unterzogen, mit großem Erfolg. Bestimmt wird "Daddo" den begabten Kevin nach Aufdeckung des Verwirrspaßes weiter börsenmäßig fördern. Ist also - sozialkitschig gesehen - am Ende alles gut? Ganz gewiß nicht. Denn so träumerisch darf es zugehen in Geschichten, die das Spiel "Was wäre, wenn" spielen. Da wird experimentiert, neu kombiniert und wieder aufgelöst, dick aufgetragen und wieder weggewischt. Die Autorin beweist in diesem Spiel Phantasie. Und sie kann sehr sachte belehren. Der Spaß, den sie mit ihrer Geschichte bereitet, kommt dabei niemals in Bedrängnis - man spürt nur, daß er nicht ohne Hintergrund ist.
MYRIAM MIELES
Kirsten Boie: "Der Prinz und der Bottelknabe oder Erzähl mir vom Dow Jones". Oetinger Verlag, Hamburg 1997. 220 S., geb., 19,80 DM. Ab 12 J.
In ihrer Verwechslungskomödie verschont Kirsten Boie weder Reiche noch Arme und Pädagogen schon gar nicht. Ob Kevin sich unter den Argusaugen seiner falschen Mutter auf dem Hockeyplatz bewähren muß oder Calvin vorsichtig durch zwielichtige Schmuddelviertel tappt - die unterschiedlichen Milieus sind mit festem Strich gezeichnet. Zum Teil wird dabei kräftig übertrieben, aber das steht dem jugendlichen Schwung der beiden Helden gut an.
Mark Twain hat schon einmal eine ähnliche Geschichte erzählt. Bevor dort der Betteljunge auf den Prinzen trifft, hat er freiwillig die Grundregeln höfischer Umgangsformen einstudiert. Zeitgenosse Kevin Bottel plaudert weitaus müheloser im unvertrauten Höflichkeitsjargon, den er sich vom Fernseher abgelauscht haben mag. Was die Unterhaltungen mit seinem Ebenbild und dessen Klassenkameraden betrifft, so sind sie in MTV-Zeiten beinahe no problem. Und doch gibt es feine Unterschiede, Kevin staunt und versteht: Sprache kann so mächtig sein wie eine Hand, die zum Schlag ausholt. Da gibt es einen Mathematiklehrer, den sein Sozialneid zu zynischen Worthieben treibt. Und die Stimme der eingetauschten Mutter vergleicht Kevin mit einem Scherzbonbon: außen süß, innen Senf. Den gewitzten Unterschichtensproß kann der Konversationston hinterhältiger Nettigkeit kaum irritieren - bis er auf das suggestive Gesprächsgeschick eines Psychologen hereinfällt. In Panik macht er sich auf die Suche nach seinem Double. Auch Calvin liegt mittlerweile viel an einer Aufklärung der verworrenen Zustände. Ausgerechnet in Lebensverhältnissen, die kaum Zeit für intensive Seelenschau lassen, hat er sein Herz entdeckt. Es gehört einer kleinen Schwester und vor allem der resoluten Mitschülerin Tatjana. Die aber zeigt ihm die kalte Schulter. Den Grund dafür vermutet Calvin ganz zu Recht im Vorleben seines Doppelgängers. Zum ersten Mal werden von dem sonst so behüteten Jungen Verantwortung und persönlicher Einsatz gefordert.
Kevin hat sich derweil einem Börsencrashkurs bei Calvins Vater unterzogen, mit großem Erfolg. Bestimmt wird "Daddo" den begabten Kevin nach Aufdeckung des Verwirrspaßes weiter börsenmäßig fördern. Ist also - sozialkitschig gesehen - am Ende alles gut? Ganz gewiß nicht. Denn so träumerisch darf es zugehen in Geschichten, die das Spiel "Was wäre, wenn" spielen. Da wird experimentiert, neu kombiniert und wieder aufgelöst, dick aufgetragen und wieder weggewischt. Die Autorin beweist in diesem Spiel Phantasie. Und sie kann sehr sachte belehren. Der Spaß, den sie mit ihrer Geschichte bereitet, kommt dabei niemals in Bedrängnis - man spürt nur, daß er nicht ohne Hintergrund ist.
MYRIAM MIELES
Kirsten Boie: "Der Prinz und der Bottelknabe oder Erzähl mir vom Dow Jones". Oetinger Verlag, Hamburg 1997. 220 S., geb., 19,80 DM. Ab 12 J.